
Zwischen Asphalt und Himmel
Sommerliebe
Im sanften Atem des Frühlings wurde es geboren: ein Blatt, kaum mehr als ein Hauch von Grün, das sich zaghaft aus der Knospe wagte.
Die Sonne küsste es wach. Regen legte seine Tropfen wie Tautränen auf seine Haut, und der Wind sang ihm von Freiheit. Es lauschte. Neugierig auf das Leben, das noch vor ihm lag.
Mit dem Sommer kam das Glühen. Das Blatt breitete sich aus, trank gierig das Licht, sog die Wärme in jede Ader. Es tanzte in der Brise, lachte mit den Schmetterlingen, sprach mit den Vögeln, wenn sie sich in seinem Schatten ausruhten.
Eines Tages, als die Sonne golden zwischen den Zweigen hing, spürte es etwas Neues. Ein anderes Blatt, dicht neben ihm, das sich im Wind ganz ähnlich bewegte. Sie berührten sich, erst zufällig, dann absichtlich.
Keine Worte waren nötig.
In jedem Zittern lag Nähe, in jedem Rascheln Verlangen.
Sie hielten sich fest, wenn der Sturm kam. Sie teilten das Licht. Sie atmeten gemeinsam. Still, ohne Lunge, ohne Geräusch. Ihr Atem war Licht.
Doch der Sommer war ein schlechter Liebhaber: leidenschaftlich, aber flüchtig.
Der Herbst kroch heran, leise, wie ein Schatten auf der Mauer.
Das Licht verlor an Kraft, die Nächte wurden kalt.
Das Blatt spürte, wie das Leben aus seinen Adern wich. Die Liebe blieb, doch sie konnte nichts mehr halten.
Das geliebte Blatt neben ihm färbte sich zuerst in Rot, dann in Gold. Das letzten Aufleuchten war an Schönheit kaum zu ertragen.
Es selbst blieb grün, trotzig, festhaltend. Doch der Baum wusste, wann es Zeit war, loszulassen.
Ein Windstoß und es geschah.
Das Blatt löste sich, taumelte in die Luft, drehte sich ein letztes Mal in der Sonne.
Es sah das andere fallen, ein Stück entfernt, und für einen flüchtigen Moment berührten sich ihre Schatten auf dem Asphalt.
Dann trieb es weiter, glitt über die kalte Fahrbahn und blieb liegen.
Allein. Ohne Halt. Ohne Führung. Ohne Liebe.
Die Welt rauschte weiter. Niemand bemerkte es.
Nur ein letzter Sonnenstrahl fiel auf sein müdes Grün. In dieser Wärme erinnerte es sich an Sommernächte, an Wind, an Liebe.
Doch es lag auf kaltem Asphalt, fern von der Erde, die es einst genährt hatte.
Der Boden unter ihm war hart, fremd, unnachgiebig. Es konnte sich nicht auflösen, nicht heimkehren.
Gefangen zwischen Reifen und Regen, vom Wind hin- und hergeschoben, immer ein Stück zu weit vom Gras entfernt.
Manchmal glaubte es, der Wind wolle ihm helfen, trug es ein Stück weiter – nur, um es wieder fallen zu lassen. Tag für Tag. Nacht für Nacht.
Es hoffte, jemand würde es aufheben. Vielleicht ein Kind, das seine Farbe schön fand.
Doch niemand kam.
Der Himmel wurde grau. Der Herbst roch nach Ende.
Und in seinem letzten Atemzug flüsterte das Blatt leise: „Vielleicht… vielleicht im nächsten Frühling.“
Feine Tropfen sammelten sich an seinen Rändern, kaum sichtbar, wie Tränen.
Da strich der Wind über die Straße, als wolle er trösten,
und nahm sein letztes Rascheln mit.
Wenn Blätter Herzen berühren
Ich bücke mich und finde das Blatt. Lieblos auf dem Asphalt verstreut, die Kanten leicht zerknittert, die Farbe verblasst vom kalten Herbstlicht.
Für einen Moment zögere ich. Es ist nur ein Blatt. Und doch scheint es zu zittern, als hätte es auf mich gewartet.
Vorsichtig nehme ich es auf, zwischen meine Hände, und drücke es sanft an mein Herz.
Es ist kühl, fast zerbrechlich, und doch spüre ich etwas: eine Erinnerung an Sommer, an Licht, an den Wind, der es getragen hat.
Mein Herz schlägt, und für einen Augenblick höre ich sein Rascheln. Leise wie ein Atemzug.
Ein Lächeln huscht über mein Gesicht.
Ich stehe mitten auf der Straße. Die Welt rauscht weiter, unberührt von diesem kleinen Wunder in meinen Händen. Ich schließe die Augen, halte das Blatt wie einen Schatz, der niemandem gehört.
Traurigkeit und Hoffnung vermischen sich. Vielleicht wird der Wind es wieder tragen.
Vielleicht reicht dieser eine Moment.
Ich öffne die Augen.
Sonnenlicht fällt auf das Blatt, auf meine Hände, auf mein Herz.
Ich atme tief ein. Für einen winzigen Augenblick sind Asphalt und Himmel, Vergänglichkeit und Leben, Vergangenheit und Gegenwart eins.
Ich spüre den Wind auf meinem Gesicht, doch es ist seine Präsenz, die mich wirklich erfüllt.
In meinen Gedanken entsteht ER. Eine Gestalt aus Sommerlicht, dunkel, intensiv, weich.
Langsam tritt er näher. Ich spüre die Wärme seines Körpers schon, bevor seine Hand meine findet.
Seine Finger schließen sich um meine, sanft, aber bestimmt.
Mein Herz schlägt schneller, ein Prickeln zieht durch jede Faser, als würde der Wind selbst unsere Körper verbinden. Seine Nähe, seine Kraft, die unaufdringliche Intensität. Sie lassen mich zittern, atmen, beben.
Ein leises Verlangen kriecht durch meine Haut, ein warmer Funke, der mein Herz höher schlagen lässt.
Er legt seine Stirn an meine, sein Atem streicht über meine Wangen, ein Schauer läuft meinen Rücken hinab. Das Blatt zwischen uns wird zum stummen Zeugen, eine Brücke zwischen Nähe, Sehnsucht und dem, was wir kaum auszusprechen wagen.
Er zieht mich ein Stück näher, als wollte er uns, unzertrennlich machen.
Sein Blick, seine Berührung, seine Energie und mehr. Alles fließt ineinander, wie ein unsichtbarer Strom, der mich durchdringt.
Ich schließe die Augen, will den Moment dehnen, ihn festhalten, ihn in mir bewahren. Ich genieße.
Die Einsamkeit des Blattes, die Stille, die Vergänglichkeit. Alles verschmilzt zu Wärme, zu Nähe, zu einem stillen, brennenden Versprechen.
Jeder Atemzug, jede Berührung scheint Zeit und Raum aufzulösen.
Der Wind streicht über die Straße, trägt unser Rascheln der Leidenschaft davon, als wolle er bestätigen:
Auch in der Vergänglichkeit gibt es Berührung, gibt es Nähe, gibt es Augenblicke, die bleiben.
Zwischen Asphalt und Himmel, zwischen Herz und Körper, zwischen mir und ihm.
Dann quietschen Reifen. Asphalt knirscht. Ein dröhnendes Geräusch zerreißt die Stille.
Für einen Moment verklirrt alles. Der Wind, das Rascheln, die Wärme seiner Nähe. Und doch bleibt ein Nachbeben in mir, ein leises Glühen, das sich nicht löschen lässt.
Ein Auto taucht auf. Viel zu schnell.
Mein Herz stolpert. Panik fährt durch jede Faser. Instinktiv springe ich zurück, das Blatt fest an mein Herz gedrückt. Mein Atem rast. Alles verschwimmt, Sonne, Wind, Erinnerung, Er.
Das Auto rauscht vorbei. Die Gefahr verfliegt.
Ich stehe zitternd da, die Hände um das kleine, verletzliche Blatt geschlossen.
Mein Herz hämmert, der Puls pocht. Ich atme tief ein.
Und plötzlich weiß ich, wie zerbrechlich alles ist. Das Blatt, die Fantasie, die Nähe.
Doch ich halte es noch immer fest, als wäre es mein Anker, mein kleiner Schatz zwischen Asphalt und Himmel.
Langsam öffne ich die Hände. Das Blatt glitzert im schwachen Sonnenlicht.
Adrenalin, Angst und ein seltsames Glück. Das kleine Leben ist unversehrt. Doch ER ist verschwunden.
Für einen Augenblick ist alles still. Nur das Rascheln des Blattes, das Flüstern des Windes und mein schneller Herzschlag sind real.
Der Asphalt liegt grau und still vor mir.
Aber in meinem Herzen pulsiert Wärme und die Nachwirkungen der Leidenschaft der letzten Minuten.
Ich sehe auf das Blatt in meiner Hand. So klein, so zerbrechlich und spüre seine ganze Geschichte: Sommer, Liebe, Einsamkeit.
Ich kann es so nicht einfach liegen lassen.
Es zittert, als würde es atmen.
Meine Finger schließen sich um seine Ränder, schützen es, halten es fest.
Die Welt rauscht weiter, doch in diesem Moment existieren nur das Blatt und ich. Alles andere ist vergessen. Ich sehe, dass es Hilfe braucht. Einen Ort, an dem es wieder atmen kann.
Mein Herz schlägt schneller.
Ich laufe zu einem verrotteten Blatthaufen am Straßenrand und lege es sanft daneben.
Ein leiser Wind streicht darüber, fast wie ein Dank.
Ich berühre seine feuchte Oberfläche, spüre die Vergangenheit des Sommers und die Gegenwart des Herbstes zugleich.
In mir wächst ein leises Glück und das Wissen, dass ich dieses kleine Leben, das verloren schien, wenigstens einen Moment lang tragen durfte.
Ich drücke es noch einmal an mein Herz und flüstere:
„Du bist nicht allein.“
Und während ich aufstehe, spüre ich, wie etwas von seinem stillen Mut in mich übergeht. Eine Erinnerung daran, daß selbst das Kleinste im Leben es wert ist, gerettet zu werden.

Geschrieben von Lissy am 27.10.2025